WELTLITERATUR: "Reisen um die Welt in 80 Tagen" - Als das Reisen noch ein sinnliches Abenteuer war
Beinahe jeder kennt sie, Jules Vernes Weltreise anno 1872, das Ergebnis einer Reform-Club-Wette.
Von London nach Suez via das italienische Brindisi, weiter nach Bombay und Kalkutta - konfrontiert mit einer mörderischen Kali-Sekte - , durch die Straße von Malakka bis nach Singapur, Hongkong und das japanische Yokohama. Im Anschluss die Pazifik-Überfahrt nach San Francisco und die Zugreise durch Nevada und Utah, über die Rocky Mountains bis nach Chicago und schließlich New York - einschließlich einer einstürzenden Eisenbahnbrücke, einem beinahe-Duell und dem Angriff von Sioux-Indianern. Während der Atlantik-Überfahrt mit dem Raddampfer „Henrietta“, büßt dieser sämtliche Holzaufbauten und Ausstattung ein, um die Reisenden quasi mit letztem Dampf an die irische Küste zu bringen. Und in Liverpool fälschlich als Bankräuber inhaftiert, scheint die 80Tage-Wette für den Gentleman Phileas Fogg nach zahllosen Unwägbarkeiten und Verspätungen endgültig verloren - wäre da nicht die Zeitverschiebung zu berücksichtigen …
Aber wer ist der Protagonist der Geschichte, dieser Phileas Fogg, eigentlich? Nun, es dürfte wohl kaum einen anderen Roman geben, der sich hinsichtlich der Hauptperson so bedeckt hält. Er geht keiner bekannten Arbeit nach, hat keine Vorlieben - außer dem Whist-Kartenspiel und Zeitung lesen - , nennt keine Verwandtschaft sein Eigen und pendelt täglich einzig zwischen seinem Haus in Burlington Gardens und dem Reform-Club. Dennoch, dieser gutaussehende vermögende Exzentriker mit Schnauz- und Backenbart, scheinbar bar jeder menschlichen Emotion, ist die personifizierte Ehrbarkeit und Korrektheit, wobei er einige Prinzipien bis ins Groteske kultiviert hat: Das Rasierwasser niemals unter oder über 86 Grad Fahrenheit, seinen Sherry, Port und Claret nie ohne Eis, um zufriedenstellende Kühlung sicherzustellen.
Als nun dieser besagte Mr. Fogg ausgerechnet den sehr unsteten lebensfrohen Franzosen Jean Passepartout als Diener einstellt, der bereits als Straßensänger, Kunstreiter, Turnlehrer und Feuerwehrwachtmeister sein Leben fristete, dämmert es dem überraschten Leser, dass es an dem Wesen des Phileas Fogg noch ungeahnte Seiten zu entdecken gibt.
Tatsächlich erweisen sich der britische Ehrenmann und sein französischer Diener als kongeniales Duo, abwechselnd fasziniert und nachsichtig mit den Eigenheiten des jeweils anderen. Überhaupt erstreiten sich Tugenden wie Toleranz, Respekt und kindliche Neugier zunehmend ihren Platz neben Erfindungsgeist, Unnachgiebigkeit und Prinzipientreue in einem die Welt umspannenden britischen Empire um 1900.
Jules Verne offeriert den beiden Helden dafür zahlreiche Gelegenheiten auf allen Transportwegen der damaligen Welt - Eisenbahn, Segelschiff, Dampfer, Kutsche, Elefant - , durch die Begegnung mit den verschiedensten Kulturen sowie einer Reisebegleitung in Person der erretteten indischen Fürstenwitwe Aouda und des zwielichtigen britischen Polizeiagenten Fix. Dabei spart der Schriftsteller nicht mit unverkrampfter Ironie und amüsanten Seitenhieben auf britische und anglo-amerikanische Lebensart, was zusätzliche Sympathiepunkte verdient.
Wie schnell und doch so arm an Abenteuern und Herausforderungen ist das Reisen dagegen im 21. Jahrhundert. Eine gute Gelegenheit, diesen Roman zur Hand zu nehmen.
Von Herzen danke, Jules Verne.
Andreas Reinhardt / Beitrag v. 21.05.16