Architektonische Spannungsbögen um 1900 - ein Spaziergang in die Gründerzeit (Teil 1)
Noch viele Gebäude und Bauwerke stehen im Zeichen der preußisch-deutschen Architektur um 1900. Schärfen wir unseren Blick für das kostbare Erbe der Altvorderen - vielleicht während eines besinnlichen Spaziergangs. Es ist ein Blick in die Geschichte, der sich lohnt.
Man stelle sich vor, Sinn und Unsinn heutiger "Glaspaläste" öffentlich zur Diskussion zu stellen. Geringer Bauaufwand, ressourcen- und kostenschonend, Ausdruck einer modernen Kommunikationsgesellschaft, würden die einen zum besten geben, energiefressend, emotionsloses kaltes Design ohne jegliche kulturelle Identität vermutlich die anderen. Anzunehmen, dass diese Diskussion nicht mehr fern ist, und dann ..., aber versetzen wir uns doch zum Vergleich in die Gründerzeit.
Das Deutsche Kaiserreich von 1871 stand vor erheblichen gesellschaftlichen Umbrüchen. Dennoch erfassten Neuerungen einen Bereich zunächst nicht wesentlich - den der äußeren Gebäudearchitektur. Man begeisterte sich nach wie vor für den Historismus. Insbesondere das erstarkende Bürgertum forcierte eine Neo-Renaissance, Neo-Gotik, Neo-Romanik oder auch einen Neo-Barock, welche den Stil der deutschen Gründerzeit eingangs bestimmten. In diesem Sinne hingen Architekten wie Bauherren dem Althergebrachten nach. Und die romantische Verklärung war durchaus politisch-ideologisches Programm.
Öffentliche Gebäude wurden je nach Funktion häufig in bestimmten Stilen erbaut. So waren Museen und Justizgebäude mehrheitlich neoklassizistischer Art, wohingegen bei preußischen Reichspostämtern die Neo-Gotik und bei Opernhäusern der Neo-Barock dominierten. Das 1894 fertiggestellte Berliner Reichstagsgebäude des Architekten Paul Wallot wiederum ist bestimmt durch die Neo-Renaissance. Besonders die Reichshauptstadt wartete mit aufwendigen Bauwerken auf wie der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1891 von Franz Heinrich Schwechten im neoromanischen Stil erbaut, oder dem Berliner Dom von 1894, von Julius Raschdorff wiederum im Stilmix Hochrenaissance und Barock umgesetzt. Auch das Theater des Westens oder das ehemalige Postfuhramt in der Oranienburger Straße vermitteln einen nachhaltigen Eindruck. Doch der gesellschaftliche Wandel beförderte unaufhaltsam eine neuartige kreative Bewegung - den Jugendstil. Dessen zunehmender Erfolg hatte drei maßgebliche Gründe: Industrielle Produktion, Landflucht und schlicht einen neuen Zeitgeist.
Im Jahr 1871 lebten 36 % der Bevölkerung Deutschlands in Städten. Bis 1914 waren es bereits 60 %. Die Chance auf eine Arbeit in den zahllosen neugegründeten Fabriken trieb die Menschen in die Städte. Der zur Verfügung stehende Wohnraum konnte mit den Folgen des Wirtschaftsbooms jedoch nicht mithalten. Ganze Straßenzüge mit neuen Mietskasernen entstanden. Bauherren waren Unternehmer, die die finanzierbare Unterbringung ihrer wachsenden Belegschaften selber gewährleisten mussten. Entsprechend kostengünstig sollten die Gebäude ausfallen. Die in der Vergangenheit verhafteten Konzepte des Historismus fanden zunächst, wie auch beim Bau von Privatvillen für das gutbetuchte Bürgertum, noch Anwendung.
Bis sich der Jugendstil mit seiner Abkehr vom "Pompösen" und aus der Sicht seiner Vertreter "Stillosen" durchsetzte. Maßvolles Design und Funktionalität hielten Einzug. Zuvor noch betont großzügig eingesetztes Zierrat für Außenfassaden und Innenausstattung, durch die Industrieproduktion längst kostengünstig in großen Mengen hergestellt und entsprechend inflationär verbaut, verlor an Akzeptanz. Stattdessen begeisterte man sich am japanischen Design mit seinen klaren Linien und Strukturen. Auch wurde wieder die Naturverbundenheit in den Vordergrund gestellt und die Einheit von Körper und Geist interpretiert.
Die Zeitschrift "Berliner Architekturwelt" stellt in ihrer Ausgabe aus dem Jahr 1903 die Spannung zwischen Historismus und Jugendstil im städtischen Wohnungsbau in einer Stilkritik klar heraus:
"Die Mietskaserne ist als Tummelplatz wildgewordener Architekteneinfälle seit Jahren Gegenstand der Verzweiflung aller Freunde künstlerischer Erscheinung. Denn je mehr man glaubte, daran verzweifeln zu müssen, das einförmige Schema der inneren Raumeinteilung in der Strassenansicht erkennbar zur Geltung zu bringen, desto mehr war man bestrebt, hinter enggestelltem aufgeklebtem Zierrat die Armseligkeit der Mauer zu verstecken. Die Stuckplastik verschwendete ihre Gaben mit jener Freigiebigkeit, durch welche die billigen Materialien so leicht das Maass des guten Geschmacks überschreiten. [...]
Ein neues Mittel glaubte man in der Unsymmetrie gefunden, mit welcher der Villenbau zuweilen Glück gehabt hatte. Auch an dem in die Strassenflucht eingekeilten Hause wurde die glatte Mauer etwas mehr geschont als jüngst, und dafür kutschierten vereinzelte Ornamente nach dem ganz missverstandenen Prinzip des Japanismus auf der Fläche hin und her. Auch Erkerausbauten klebten zuweilen an der einen Seite des Hauses schief unter einer symmetrisch gestalteten Giebelausbildung und erhielten ein ungenügendes Gegengewicht durch breite Fenster auf der entgegengesetzten Hausecke. [...]
Dann allerdings richtet sich auch wohl in Berlin mitten in der Potsdamerstrasse ein oder das andere Haus auf, das man nur aufmerksam zu studieren braucht, um die bereits vollentwickelte Formel des modernen Mietshauses klar herauszufinden. Aber häufiger und durch die Wiederholung eindringlicher wird die Lehre verkündet in den Vierteln aller Grossstädte, wo auf neuem Terrain rüstig ganze Strassenzüge in wenigen Monaten heranwachsen. Dort findet man das Haus der kommenden Epoche. Nicht immer sind diese Bauten frei von Rückfällen in den Protzstil der jüngst vergangenen Zeit. Aber der neue Gedanke richtet sich dennoch kräftig auf, ein Versprechen leistend, dass er alle Kinderkrankheiten überwinden werde. [...]"
Andreas Reinhardt / Beitrag v. 10.06.16