Architektonische Spannungsbögen um 1900 - ein Spaziergang in die Gründerzeit (Teil 2)
Insgesamt kommt man nicht umhin, den Architekten der Gründerzeit um 1900 ein Dilemma zu attestieren, das sich häufig in einem Stilmix aus Historismus und Jugendstil widerspiegelte - manchmal gefühlvoll zusammengeführt, doch häufig verwirrend und konfus. Die Einschätzung der "Berliner Architekturwelt" von 1903 dazu ist aufschlussreich:
"[...] In einer schwierigen Lage befindet sich der Architekt unserer Zeit, weil er vor Aufgaben steht, die sich künstlerisch nicht ableiten lassen, deren profaner Zweckgedanke meist noch nicht einmal sozial präzise formuliert ist. Sein Bemühen, mittels des Verstandes Traditionen zu finden, um dem Schaffen Grundlage und Stetigkeit der Entwicklung zu geben, kann nur zu einem Archaismus führen, der sich, je nach der Art der Persönlichkeit, künstlerisch qualifiziert. [...]
Auch die edleren neuen Bestrebungen werden durch diesen Zustand der Dinge gehemmt. Mancher wohlmeinende Führer gerät, im Drange natürliche Ueberlieferungen nachzuweisen, in die verderblichsten Irrtümer, lässt, was in der Architektur das Schlimmste ist, die im sozialen wurzelnden Bedingungen einer modernen Profanbaukunst aus dem Auge und idealisiert die Aufgaben der Zeit nach falscher Richtung hin. [...] Gerade von der Stadtarchitektur hängt die Zukunft unserer Baukunst ab und hier fehlt es am meisten an einer Tradition, die dem Künstler Führerin sein könnte. [...] Es kommt also darauf an, einen Ausgangspunkt nicht willkürlicher Art zu suchen, einen Weg, auf dem sich die wachgebliebenen Ueberlieferungen wie von selbst dem Schaffen zugesellen können. [...]
Bezeichnend für den stilmüden Sinn des modernen Menschen ist es, dass zu ihm primitive Gerüstarchitekturen, Ruinenmonumentalität und phrasenlose Zweckkonstruktionen mehr sprechen, als alle noch so feinsinnigen Nachbildungen historischer Stile. Man hat diesen Vorgang dekadent genannt. Doch das ist nichts als ein Wort, erfunden um damit zu operieren. Die Kunstgeschichte kennt keine Dekadenz, denn jedes Ende wird in ihr zum Anfang. [...]"
Ein großer Architekt seiner Zeit war Johann Eduard Jacobsthal (1839-1902). Man kann ihn gleichsam als einen tragischen Helden seiner Zeit begreifen. Er schuf insbesondere im Bahnhofsbau modernste Meisterwerke wie den Bahnhof Alexanderplatz in Berlin. Doch entbehrten seine architektonischen Lösungen jener dekorativen Verspieltheit, wie sie noch immer dem Zeitgeist entsprang. Er ließ sich von praktischer Vernunft leiten und gerade nicht von historischen Stilepochen. Statische wie Materialprobleme überwand Jacobsthal in aller Bescheidenheit und ohne großes Aufsehen. Somit erhielt der Bahnhof Alexanderplatz letztlich nicht den wohlverdienten Status eines der bedeutendsten Bauten des Kaiserreiches.
In dem Maße, in welchem Berlin wuchs und Vor- und Nachbarorte in seinen Aufschwung einbezog, hielt insbesondere auch der moderne öffentliche Städtebau dort Einzug. Schließlich mussten die angrenzenden Gemeinwesen dem verstärkten Zuzug von Bürgern standhalten. So entstand in Schmargendorf zwischen 1. Juni 1900 und 1902 ein Rathaus modernster Prägung, bei dem dennoch auf Tradition gesetzt wurde. Auch heute noch findet sich im Hauptgiebel der märkische Adler und über den Saalfenstern das preußische Königswappen sowie die der vier über Brandenburg geherrschten Markgrafengeschlechter der Anhaltiner, Wittelsbacher, Böhmen-Luxemburger und Zollern. Auch öffentliche Badeanstalten gaben ein treffliches Beispiel für eine Zeitenwende in den Architekturprojekten ab. In der Reichshauptstadt erkannte man zunehmend die Bedeutung körperlicher Wohlfahrt. Eine bessere Ausstattung und höhere Bequemlichkeit wurden obligatorisch. Die städtischen Gemeinwesen verschrieben sich vorbeugenden und gesundheitsfördernden Maßnahmen zur Gesunderhaltung und besseren Genesung der Bevölkerung. Der äußere Gebäudestil der Neubauten um 1900, wie die Volksbadeanstalt Berlin-Oderbergerstraße oder das Bärwaldbad in der gleichnamigen Straße standen dieser Modernität nicht nach.
Falls Sie sich eventuell fragen, was die Architektur der Gründerzeit mit dem Hier und Jetzt zu tun haben soll, sei abschließend umso mehr empfohlen, mit offenen Augen und offenem Geist durch die eigene Stadt zu gehen. Das Hier und Jetzt hat eine Geschichte - wie die Menschen, so auch das jeweilige Stadtbild mit seinen Gebäuden, in denen wir leben, arbeiten, unsere Freizeit verbringen. Die Geschichte Deutschlands begleitet uns, bestimmt uns, definiert uns. Das gilt selbstverständlich auch für die Architektur.
"Der Architekt ist seinem Begriff nach der Veredler aller menschlichen Verhältnisse. Er muss in seinem Wirkungskreise die gesamte schöne Kunst umfassen. Plastik, Malerei und die Kunst der Raumverhältnisse nach Bedingungen des sittlichen und vernunftgemäßen Lebens des Menschen schmelzen bei ihm zu einer Kunst zusammen." (Karl Friedrich Schinkel 1781-1841 - preußischer Architekt)
Andreas Reinhardt / Beitrag v. 02.07.16