WELTLITERATUR: "Frankenstein" - Der Fluch der gottlosen Tat

Gerade einmal zwanzig Jahre alt war Mary Wollstonecraft Shelley, als 1817 ihr bahnbrechender Roman Frankenstein erschien. Sie hatte darin ein Monstrum erschaffen, welches kommenden Generationen von Schöpfern - von Fritz Haber, dem Erfinder des Chlorgases als der ersten Massenvernichtungswaffe, bis J.R. Oppenheimer, dem Vater der Atombombe - ein mahnendes Beispiel hätte sein können und müssen.

Sobald man Wissensdurst, Zügellosigkeit und Temperament Viktor Frankensteins näher kennenlernt, fühlt man sich an Goethes Faust erinnert:

Frankenstein: „... So vieles also ist schon errungen worden, rief Frankensteins Seele – ich aber will noch mehr, noch weit mehr erreichen: Voranschreitend auf dem schon vorgezeichneten Pfad will ich der Menschheit bislang unbekannte Wege erschließen, will auch noch unentdeckte Kräfte entdecken und der Welt das tiefste Geheimnis der Schöpfung offenbaren! ...“
Faust: „... Drum hab ich mich der Magie ergeben, ob mir durch Geistes Kraft und Mund nicht manch Geheimnis werde kund. Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß rede von dem, was ich nicht weiß. Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. ...“

Doch was Frankenstein aus Leichenteilen zusammenfügt und mit Hilfe der Elektrizität zu gottlosem Leben erweckt, wird zu seiner persönlichen Nemesis, als er die Kreatur acht- und schutzlos zurücklässt. Indem die Schöpfung an Körpermaß, Kraft und Intelligenz das Herkömmliche bei weitem übersteigt und selbst ihre Emotionen in Extreme verfallen, wird sie zur grauenhaften Reflexion der Arroganz, Missachtung und fortgesetzten Verantwortungslosigkeit ihres Schöpfers übersteigert.

Als Viktor Frankenstein sich seinem Geschöpf fluchtartig entzieht und dieses wie ein böser Traum verschwunden ist, schüttelt er auch die Erinnerung daran ab. Doch der Brief seines Vaters über den Mord an dem jüngsten Bruders Wilhelm, lässt ihn sein Studiendomizil Ingolstadt nach sechs Jahren gen Heimatstadt Genf verlassen. Nachdem die Kreatur sich ihm dort aus der Ferne gezeigt hat, gerät das familienverbundene Dienstmädchen in Mordverdacht und wird hingerichtet. In dem Wissen, dass ihm die Geschichte um den wahren Schuldigen niemand glauben würde, schweigt Frankenstein. Auf der Suche nach Seelenfrieden begibt er sich auf eine Wanderschaft am Fuße des Montblanc, wo sein Geschöpf sich ihm offenbart. Mittlerweile nicht nur der Sprache mächtig sondern auch erstaunlich intelligent und belesen, berichtet es von seinem zwischenzeitlichen Lebens- und Leidensweg, immer auf der Suche nach Liebe und Anerkennung der Menschen. Es wird deutlich, dass Hass und Neid in dem Maße angewachsen sind, in dem das Geschöpf die Ablehnung und Missachtung durch seinen Schöpfer sowie dessen Verantwortung für die eigene hässliche Gottlosigkeit realisiert hatte.

Mit der Forderung nach Schaffung einer Gefährtin, bietet die Kreatur einen Handel an, dem Frankenstein aus Angst um die Familie und nagender Schuld zustimmt. In Begleitung seines geliebten Freundes Henri begibt er sich auf eine Reise nach London. Doch um seinen Schwur zu erfüllen, zieht er sich alleine ins entlegene Schottland zurück. Als ihn sein Geschöpf auch dort heimsucht, verweigert sich Frankenstein. Darauf wird er mit zwei Sätzen konfrontiert, die schicksalhafter nicht sein könnten: „Du bist mein Schöpfer, doch ich bin dein Herr – gehorche denn!“ und „Allein, sei dessen eingedenk: Ich werde dich besuchen in deiner Hochzeitsnacht!“

Als dem unmittelbaren Mord an Henri, der an seiner Braut Elisabeth in besagter Hochzeitsnacht sowie der gramvolle Tod des greisen Vaters folgt, entspinnt sich eine unerbittliche Verfolgungsjagd zwischen zwei Getriebenen über Mittelmeer und Schwarzes Meer, durch die weiten Steppen Russlands bis zum Nordpolarmeer. Erst als Viktor Frankenstein völlig entkräftet in den Armen eines jungen Schiffskapitäns stirbt, erscheint zum letzten Mal Frankensteins Geschöpf, wehklagend und seinen rituellen Selbstmord auf einem Scheiterhaufen verkündend.

Es ist in erster Linie das beseelte und von menschlichen Emotionen getriebene Handeln und Argumentieren der Kreatur, welches diesen Roman so einzigartig macht. Wohl nie zuvor oder danach wurde ein Wissenschaftler derart unmittelbar und schonungslos mit der eigenen Schöpfung konfrontiert. Selbst Hollywoods zahlreiche Filmvisionen waren nicht fähig oder willens, die Komplexität von Handlung und Geschöpf auch nur annähernd wiederzugeben.

Fazit: Auch nach beinahe 200 Jahren hat der Klassiker Frankenstein weder an schriftstellerischer Genialität, noch an Relevanz eingebüßt. Gotteskomplex und Kriegstreiberei beherrschen nach wie vor das Handeln mächtiger Eliten, und noch immer steht der menschliche Forscherdrang auch im Dienst gottloser Schöpfung und Zerstörung.

Andreas Reinhardt / Beitrag v. 22.07.16

 
 

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